12.) "Ja, da bin ich dann also wieder..."

 

 

Mittwoch, 01.07.2009

Gegen acht Uhr bin ich aufgestanden und nach dem Frühstück habe ich zuerst Wurst gekauft - mein Essenswunsch an Mama. Und im Dorf habe ich unseren "Postminister" kurz begrüßt und auf dem Heimweg unseren katholischen Diakon getroffen, mit dem ich mich noch länger gesprochen habe. Nachdem ich wieder zurück war und anfangen wollte Erbsen zu puhlen, da kamen noch andere Nachbarn kurz vorbei. Und so habe ich den heutigen Tag viel erzählt und viel erzählt bekommen. Und dann habe ich natürlich doch noch sehr viel Heimweh nach Russland zu Masha und ihrer Familie. Der Abschiedsschmerz ist wohl noch nicht überwunden.

Auch wenn ich jetzt zurück bin und es aus Russland nichts mehr zu berichten gibt, so möchte ich zumindest bis zu einer gewissen Zeit das Tagebuch weiterführen und es irgendwann langsam auslaufen lassen. Mir geht es nun darum, die Eindrücke festzuhalten, die sich im Laufe der nächsten Wochen und Monate sammeln. Vieles wird sich jetzt erst festigen müssen und ich werde es jetzt verarbeiten können.

 

 

Freitag, 03.07.2009

Heute habe ich erstmals meine ostfriesischen Freunde wieder getroffen und bin ebenfalls sehr glücklich. Es hat sich doch nichts verändert, außer dass Marco und Mareike geheiratet haben. Auch wenn mir alle bescheinigt haben, dass ich mich nicht verändert habe, so habe ich mich selbst doch verändert gefühlt. Einigen Gesprächsthemen trete ich anscheinend doch zurückhaltender gegenüber oder mir kam das ein wenig fremd vor. Das ist so eine Veränderung, die ich an mir selbst gemerkt habe oder eine Tatsache, an die ich mich vielleicht erst wieder gewöhnen möchte. Ich habe mich in diesem Kreis jedoch wieder sehr wohl gefühlt und bin glücklich von Daniel nach Hause gebracht worden. Auf dieses Treffen habe ich mich sehr lange gefreut und genauso schön ist es geworden.

 

 

Sonntag, 05.07.2009

"Ja, dann bin ich dann also wieder..." - mit diesen Worten habe ich meine katholische Heimatgemeinde St. Mariä Himmelfahrt in Moormerland-Oldersum begrüßt, als ich nach der Heiligen Messe der Gemeinde eine Marienikone überreicht habe. Ich habe der Gemeinde kurz etwas über die Russisch-orthodoxe erzählt und vor allem erklärt, dass eine Ikone kein Bild ist, sondern im Glauben der orthodoxen Kirchen die Heiligen real präsent sind und man durch die Ikonen das Göttliche sehen kann. Dementsprechend habe ich auch darauf hingewiesen, dass die Christen dort Kerzen anzünden, sie küssen, vor ihnen knien, vor ihnen beten usw. - sie also tief verehren. Mir war es wichtig zu sagen, dass da nicht einfach ein Bild an der Wand hängt. Schon in der Sakristei hat der polnische Vertretungspriester angeboten, die Ikone zu weihen, was er dann auch mit reichlich Weihwasser gemacht hat. Nun hoffe ich, dass sie einen schönen Platz irgendwo in der Kirche findet. Matthias hatte mir Tage vorher schon erzählt, dass Sarah heute mit mir dienen wollte, was wir dann auch so gemacht haben. Nach der Kirche wurde ich dann von der ganzen Gemeinde aufs Herzlichste begrüßt, was mich sehr gefreut hat. Nun weiß ich doch, wo meine katholische Heimatgemeinde in Deutschland ist. So war es auch unheimlich schön, wieder im vertrauten Kreis kommunizieren zu können. Ich habe es in Moskau ja nicht wirklich vermisst, zumal mir die katholische Kirchengemeinde nicht gefallen hat. Aber jetzt in Oldersum habe ich doch wieder gemerkt, wo meine "katholische Heimat" ist. Das scheint mir doch sehr wichtig zu sein. Nach den zahlreichen Gesprächen auf dem Kirchplatz habe ich eine Einladung für einen bekannten Priester mit seiner Haushälterin ausgesprochen, die der auch prompt gefolgt sind. Darüber habe ich mich sehr gefreut und wir haben sehr kritische und interessante Schlusspunkte gezogen. So ist mir während dieser ganzen Zeit in Russland beispielsweise insbesondere aufgefallen - und das noch bevor ich Elena und Masha kennen gelernt habe, dass das katholische Priestertum für mich nicht in Frage kommt, auch wenn ich damit die Hoffnungen meiner Gemeinde so zerstört habe. Ich werde ohne eine Frau das Priesteramt nicht ausführen können, weil ich mich dann nicht vollständig fühle. Mir ist klar geworden, dass Seelsorge, vor allem im familiären Bereich, ohne eigene Erfahrung nur theoretisch möglich ist. Viel wichtiger scheint mir jedoch das Praktische und die Lebens(nahe)Erfahrung zu sein. Und auch ist keiner da, mit dem man vertraut und alleine über den Glauben reden kann, mir als Priester würde es sehr schwer fallen, den Glauben alleine zu leben - und dazu mit einer solchen Überzeugung, dass ich ihn weitertragen könnte. Ich denke, dass der tragende Glaube, den ein Priester benötigt, auch ganz stark in seiner eigenen Familie verortet ist: Man hilft sich gegenseitig. Und letztlich ist eine Matuschka in einer gewissen Form auch in der Seelsorge tätig, da es Dinge gibt, die eine Frau sicherlich besser kann als ein Mann. Vielleicht gibt Gott ja eines Tages, dass ich Diakon werden kann - ein Amt, das ich mit aller Kraft und Liebe meines Glaubens ausfüllen möchte. Stark genug dazu fühle ich mich.

Ein paar Bilder habe ich mit dem ersten Besuch auch noch geschaut und nachdem er (leider) schon um 12 Uhr gefahren ist, war etwas Zeit zum Mittagessen da und um Masha ein paar SMS zu schreiben. Matthias hatte angekündigt, dass eine Familie aus seiner Nachbarschaft bei uns Johannisbeeren pflücken möchte, die dann gegen halb drei vorbei kommen wollte. Auch mit ihnen habe ich noch zusammen gesessen bis dann etwa eine Stunde später wieder Besuch aus der Kirchengemeinde eintrudelte: Ein Russlanddeutsches Ehepaar, die nunmehr seit fünfzehn Jahren in Deutschland leben. Sie waren während des ganzen Studienaufenthaltes sehr interessiert und müssen meinen Eltern Löcher in den Bauch gefragt haben, wie es mir dort ginge. Und schon nach der Heiligen Messe am Vormittag wurde ich von ihnen angesprochen und meine Mutter hat sie dann nach Hause eingeladen. Beim Tee trinken und anschließendem Kuchen essen habe ich viel erzählt und viele Bilder gezeigt. Dabei hat sich herausgestellt, dass die beiden in der Nachbarstadt von Saratov geboren sind - genau dort, wo ich den Bischof Clemens besucht habe. Letztlich wurden beide umgesiedelt im zweiten Weltkrieg. Es war für mich sehr spannend, von den beiden selbst erzählt zu bekommen, unter welchen Verhältnissen sie gelebt haben und ihnen auf ihre Fragen zu antworten. Und so konnte ich endlich wieder Russisch sprechen - ich will meine Kenntnisse schon versuchen zu pflegen. Doch vom Vorsatz bis zum Umsatz ist ja bekanntlich ein langer Weg.

So habe ich heute einen anstrengenden Tag erlebt, der aber wunderschön war. Und wie gerne hätte ich diesen schönen Tag mit Masha geteilt. Ich kann es kaum abwarten, bis ich ihr dies alles einmal zeigen kann. Ja - ich bin dann also wieder da...

 

 

Samstag, 11.07.2009

In den letzten Tagen habe ich so nach und nach meine Sachen zusammen gesucht und einen halben Vormittag auf dem Dachboden verbracht und Bücher sortiert und überlegt, was ich zukünftig noch gebrauchen könnte. So ist jetzt zum Beispiel ein ganzer Haufen Bücher auf dem Dachboden geblieben - vor allem Philosophie oder Bücher, die ich für Hausarbeitszwecke angeschafft habe. Heute bin ich dann also mit Matthias und einem Fahrschulwagen nach Münster umgezogen und mein Eindruck, dass meiner Mutter der Abschied schon wieder recht schwer gefallen ist - obwohl ich doch jetzt gar nicht so weit weg bin.

In meinem Zimmer in Münster gibt es nach meinem Studium andere Akzentuierungen: Die Buchauswahl besteht jetzt hauptsächlich aus Themen, die die orthodoxen Kirchen und deren Dialog mit der katholischen Kirche betreffen. Schwerpunkt ist dabei natürlich die Russisch-orthodoxe Kirche. Nur noch wenige Bücher aus meiner Zeit vor Moskau sind geblieben - nur noch die, die ich sicherlich in den letzten Semestern benötigen werde. Jetzt hat sich aber auch eine religiöse Ecke entwickelt - eine Art Herrgottswinkel, wie ihn Professor Müller einmal nannte. Aber es ist kein typischer: Zum einen stehen da die ersten Ikonen, die ich geschenkt bekommen habe von Vater Vladimir und Vater Mark, beides in Russland tätige Priester, die zum Weltjugendtreffen in Oldersum zu Gast waren. In der Mitte der Ikonen hängt das große "Müllkreuz", das ich vor zwei Jahren im Müll bei der Arbeit bei der Müllabfuhr gefunden habe. Es zeichnet sich dadurch aus, dass der Jesus keine Arme hat. Und drum zu stehen nun die ersten Ikonen, die ich aus Russland mitgebracht habe oder mitgebracht worden sind von Matthias und Papa. Links daneben - halb über dem Bett - hängt nun das Bild mit dem betenden Mönch, das ich von Masha zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Einen Fernseher habe ich bewusst auch nicht mehr mitgenommen, da er mich erfahrungsgemäß nur vom Lernen ablenken würde. Hoffentlich tut es das Internet nicht auch. Nun bin ich also wieder in Münster angekommen - in meiner alten Wohnung.

 

 

Sonntag, 12.07.2009

Nun war ich am Morgen gegen 8:30 Uhr in der Heiligen Messe in der katholischen Kirche (vielleicht sollte ich das jetzt öfters ausschreiben, damit man weiß, welche Kirche genau gemeint ist) St. Joseph in Kinderhaus. Ich war angenehm überrascht, wie die Heilige Messe gefeiert wurde. In der Gemeinde wird gut gesungen und auch der Priester hat die Messe würdig und gut zelebriert - ohne jegliche Hektik und Eile. Ein anderer Priester hat gepredigt und dies zu einem sehr empfindlichen Thema: Der Grundstock war das Evangelium von der Aussendung der Jünger und dies hat er in Verbindung gebracht mit der Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit - Kirche werden geschlossen, es gibt zu wenig Priester und Gläubige, zu wenig Bekennende und letztlich ging es auch darum, dass Gemeinden zusammengelegt werden müssen. Und es scheint doch so zu sein, dass die katholische Kirche Lösungsansätze für ihre Probleme in der orthodoxen Kirche finden könnte.

In der sehr alten Kirche (von 1449) hat mir aber etwas gefehlt: Sitzt man in den Bänken mit Blick direkt zum Altar, dann sieht man ein sehr eigenartiges über dem Altar hängendes Kreuz und rechts irgendwo die schmerzhafte Maria mit Jesus auf dem Arm. Und mehr eigentlich nicht - nicht einmal der gekreuzigte Jesus - nur eben als Andeutung. Man muss schon sehr genau hinschauen um zu wissen, in was für einer Kirche man sich befindet. Wie anders ist es doch in einer orthodoxen Kirche... (obwohl ich weiß, dass es in Bayern auch sehr prächtige Gotteshäuser gibt) Ich für mich habe aber festgestellt, dass ich durchaus noch einmal zur Heiligen Messe hingehen werde. 

 

 

Donnerstag, 16.07.2009

Nun ist heute der erste Besuch aus Russland eingetroffen - eine Dozentin der Hl. Tichon-Universität aus Moskau. Sie führt derzeit Forschungen durch über romanische Kirchen in Deutschland und ist bis Samstag in Münster.  Für sie war der Dom in Münster von großem Interesse. Sie hatte mich durch Gisela in Moskau gefragt, ob ich nicht ein Quartier hier wüsste. So konnte ich wieder ein wenig russisch sprechen es ist mir eigentlich noch leicht von der Zunge gegangen. Hoffentlich bleibt es auch so. Vielleicht habe ich ja bei der Müllabfuhr hin und wieder Chance, mit einem der Russen unterwegs zu sein.

 

 

Montag, 20.07.2009 - Donnerstag, 23.07.2009

Heute kam dann schon der nächste Besuch aus Russland bei mir an - Alexej, der seit April in Berlin studiert und hier in Münster ebenfalls Forschungen bei der KSHG betreibt. Ich hatte ihm ja einige Kontakte vermittelt, bevor er nach Berlin abgereist ist. Es hat sich herausgestellt, dass ihm diese viel gebracht haben. Er kennt die KSHG beinahe besser als ich selbst und hat in diese Richtung sehr viele Kontakte knüpfen können. Ich war immer wieder erstaunt, wen er alles in Münster kennt - selbst bei den Stadtwerken kennt er einen Busfahrer. Am Mittwochabend hatte ich die Gelegenheit ihm das SefüLa (Seminar für Laientheologen) vorzustellen und so konnte er an einer Sitzung des Mitarbeiterkreises teilnehmen. Auch dies stieß bei ihm auf großes Interesse.

Schade während dieser Zeit war nur, dass ich morgens immer früh wegen dem Ferienjob aufstehen musste und abends kaum Zeit für ihn hatte. Dennoch haben wir eine gute und schöne Zeit miteinander verbringen können. Und so war ich sehr traurig, als er dann am Donnerstag wieder per Mitfahrgelegenheit nach Berlin abgereist ist. Einprägsam - bis heute - war jedoch eine Frage von ihm: Wie kann man ein solches Projekt angehen, von denen er nun so viele gesehen hat? Was ist die Initialzündung. Mehr als die Antwort konnte ich ihm (aus eigener Erfahrung) auch nicht geben: Es bedarf einer Person, die polarisieren kann, die motiviert und engagiert ist, die viele Ideen hat, die sich nicht entmutigen lässt - einfach jemand der am Ball bleibt und der eine Idee hat.

 

 

Donnerstag, 30.07.2009

Heute kann ich einen kleinen Nachtrag liefern, was aus den zwei Ende Oktober ermordeten Priestern geworden ist (s. 4. und 5. November 2008):

"Russland: Neun Monate nach dem Doppelmord an zwei Jesuitenpatres in Moskau muss sich ein russischer Angeklagter vor Gericht verantworten. Der Prozess gegen den vorbestraften Arbeitslosen begann am Montag mit der Klärung von Verfahrensfragen vor dem Moskauer Stadtgericht. Der 38-jährige Verdächtige - der angeblich aus Kuba stammt - soll Ende Oktober 2008 im Affekt und unter Alkoholeinfluss den aus Ecuador stammenden P. Victor Betancourt erschlagen haben, nachdem ihn dieser angeblich sexuell bedrängt hatte. Das teilten die Ermittler zum Ende der Beweisaufnahme in Moskau mit. Um das Verbrechen zu verdecken, habe der Täter später auch einen zweiten Jesuiten, den russischen Pater Otto Messmer, getötet. Die Jesuiten in Deutschland beklagten im vergangenen November eine Verleumdung ihrer ermordeten Mitbrüder durch die russischen Behörden. Die Umstände der Morde entsprächen einem bekannten Strickmuster im Russland der letzten Jahre. Zu diesem Muster gehöre es u.a., Prostituierte gezielt auf engagierte Katholiken anzusetzen, um ihnen eine Nähe zum Rotlichtmilieu zu unterstellen. Die beiden Mitbrüder seien aber „lauterer Gesinnung“ gewesen. Im Umfeld der Opfer in Moskau wurde dagegen die Version der russischen Behörden als durchaus möglich bezeichnet; demnach habe der ecuadorianische Jesuit sexuellen Kontakt zu seinem späteren Mörder gesucht. Der russische Pater sei nach der Rückkehr aus Deutschland in der Wohnung von dem womöglich geistig verwirrten Täter überrascht und ermordet worden. (kap)" (NÖK vom 30.07.2009).

Wie auch immer dieses Urteil ausfallen wird - es darf mit Sicherheit Anlass zum Zweifel bestehen...

 

 

Dienstag, 04.08.2009

Nun war ich heute bei Ottmar Steffan und habe meine restlichen Sachen dort abgeholt und war doch erstaunt, dass ich ihm mit seinen Begleitern so viel mitgegeben habe. Damit sind jetzt auch die restlichen Sachen in meinen Händen zurück. Kurz nachdem ich bei ihm angekommen bin, bot er mir auch schon Eis aus Russland an. Ich war etwas überrascht, dass er welches hat, wusste aber sehr wohl, woher es kommt: Aus einem Geschäft mit russischen Spezialitäten. Und dann haben wir uns noch mehrere Stunden über dies und jenes unterhalten. Dabei kam heraus, dass ich wohl nicht der Einzige bin, der nach zehn Monaten (ich will hier nicht schreiben: "nach so langer Zeit", denn diese Zeit ist mir nie lang geworden und war eigentlich viel zu schnell vorbei) doch ein gewisses Heimweh oder Verlangen nach Russland oder nach dem Ort hat, wo er/sie gewohnt hat. Seine FSJler (Freies Soziales Jahr) haben nach ihren Aufenthalten auch ein gewisses Heimweh und wollen wieder zurück - und kommen es auch zumeist. Mir geht es genauso - ich fühle mich hier zwar wieder sehr wohl, aber die Sehnsucht in dieses Land bleibt wohl. Letztlich bleibt die schöne Erinnerung an eine tolle Zeit, für die ich Gott immer dankbar sein will.

 

 

Samstag, 08.08.2009

An diesem Abend hat der erste Vortrag über meinen Aufenthalt in Russland stattgefunden - in meiner Heimatkirche in Oldersum: St. Mariä Himmelfahrt. Seit dem Nachmittag habe ich aufgebaut und Probleme mit dem Video-Beamer konnten ganz kurz vorher noch behoben werden. Gekommen sind viele meiner Freunde und Bekannten, Nachbarn, Gemeindemitglieder des Pfarrverbundes und vor allem meiner Gemeinde und so sind über 40 Leute dagewesen. Ich habe nach russischer Tradition ein wenig später als halb acht angefangen und kurz vor halb elf habe ich dann das Abschlussgebet gesungen. Letztendlich war es ein gelungener Abend. Ich glaube, dass der russische Geist auf die Zuhörer ein wenig übergesprungen ist. Geendet hat der Vortrag - von dem Gebet abgesehen - mit der ersten Strophe eines Liedes, das Ivan Rebrov einmal gesungen hat:

 

Weites Land, von Moskau bis zum Kaukasus,
vom Ural bis zum Meer.
Ganz egal, wo später ich mal sterben muss,
der Abschied fällt mir schwer.
Ich werde bei dem letzten Tag
die Taiga vor mir sehn,
die Wolga unser schönster Strom
und vor dem Kreml stehn.
Und sage wenn es dunkel wird:
„Mein Russland, Du bist schön.“
 

Es klingt zwar ein wenig endzeitlich, doch wenn man das herausnimmt oder übersieht, passt es genau zu meiner Situation und beschreibt das Fernweh, die Faszination, das Heimweh, die Glückseligkeit und den Schatz, den ich hoffentlich auf ewig in meinem Herzen tragen werde.

Und doch gibt es noch eine Sache, die bis heute geblieben ist, auch nach zehn Monaten Moskau und Russland. Es gibt ein Gedicht von Fjodor Ivanowitsch Tjutschew (1803-1873), das zutrifft:

 

„Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen,
mit gewöhnlichem Maße nicht zu messen.
es hat ein besonderes Wesen -
an Russland kann man nur glauben"
 

 

Sonntag, 23.08.2009

Der Weg zur Kirche ist für mich nach Russland offenbar etwas Besonderes geworden - nicht ein bloßes Hingehen, sondern in einer bislang nicht gekannten bewussten Form. Mit ebensolcher Haltung verfolge ich neuerdings auch die Heilige Messe und kann viel einfacher ins Gebet finden. Doch nach wie vor fehlen mir noch Ikonen in den Kirchen St. Joseph in Münster-Kinderhaus oder in meiner Heimatgemeinde - wobei letzte nun schon zwei Marienikonen hat.

Dafür gibt es jetzt in meinem Zimmer eine Ikonenecke - mit meinem Müllkreuz in der Mitte. Mit einigen Austauschen zwischen meinem Zimmer in Oldersum und meiner Wohnung in Münster ist meine Ikonenecke jetzt fertig. Im Zentrum steht das Müllkreuz, das seine eigene Geschichte und mir sehr wichtig ist. Es ist das Kreuz, zu dem ich seit dem Fund eine enge Beziehung habe. Rund drum zu stehen verschiedene Ikonen: die des Hl. Andreas, die der Hl. Maria von Magdala, die Ikone aller Heiligen, die der Neuen Märtyrer von Butovo, die vom Weltgericht, die des Hl. Tichon, die der Hll. Pjotr und Fevrona und einige mehr. Eine größere Marienikone - Utoli maja petschali (Nimm hinfort meine Leiden) kommt noch. Sie passt gut zur Qual des Lernens vor Prüfungen. Daneben gibt es eine besondere Ikone - eine aus Bari. Dort sind die Gebeine des Hl. Nikolaus von Myrra aufbewahrt. Mein ehemaliger Nachbar hat sie von dort für mich mitgebracht. Da war die Freude und Überraschung bei dem Treffen sehr groß! Und manchmal brennt vor den Ikonen meine Lampada (ein Lämpchen, das eigentlich mit Öl betrieben wird, bei mir aber mit Teelichtern) mit einem Weihrauchgestell drüber. Dementsprechend riecht es manchmal beim Lernen bei mir nach Weihrauch.

 

Meine Ikonenecke in Münster.

 

 

Mittwoch, 26.08.2009

Heute vor einem Jahr war "Dienstag, 26.08.2009."

Heute vor einem Jahr wurde ein Neues Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen.

Heute vor einem Jahr wurde aus Andreas "Andrej".

Heute vor einem Jahr hat es in Moskau geregnet.

Heute vor einem Jahr habe ich ganz bewusst einen Engel getroffen.

Heute vor einem Jahr fuhren die Gefühle Achterbahn.

Heute vor einem Jahr bin ich im Wohnheim angekommen.

Heute vor einem Jahr haben zehn orthodoxe Monate begonnen.

Heute vor einem Jahr habe ich mein Studium aufgenommen an der Orthodox-humanistischen Hl.-Tichon Univerisität.

Der Tag heute vor einem Jahr ist wie gestern.

Der Tag heute vor einem Jahr sollte mein Leben verändern.

Der Tag heute vor einem Jahr war der Prolog zu der vielleicht schönsten Zeit in meinem Leben.

Der Tag heute vor einem Jahr war tränenreich und doch hatte ich eine über-glückliche Zeit vor mir.

Der Tag heute vor einem Jahr war der Beginn einer Zeit, die schöner nicht hätte sein können.

Der Tag heute vor einem Jahr war der Auftakt zu neuen Freunden, Bekannten, Professoren und Dozenten, neuen Menschen.

Der Tag heute vor einem Jahr war der Anfang eines Lebens alleine in der Ferne.

Der Tag heute vor einem Jahr war der Beginn von Geborgenheit, Freude und Zufriedenheit.

Der Tag heute vor einem Jahr war ein Resultat von mehr als zweijähriger Vorbereitung.

Der Tag vor einem Jahr war ein guter Tag.

 

Vor genau einem Jahr bin ich ins Flugzeug gestiegen und habe mich auf den Weg nach Moskau gemacht - in eine Umgebung, in der ich mich zehn Monate lang sehr wohl gefühlt habe. Heute, am Mittwoch, den 26. August 2009 sitze ich am Schreibtisch und lerne für Prüfungen. Konzentrieren konnte ich mich heute nicht sehr, zu sehr schweiften die Gedanken an den 26. August 2008 ab. Der Tag, der so viel veränderte. Und heute ist mir auch ohne dass ich mir den Tag von vor einem Jahr noch einmal durchgelesen hätte sehr präsent: Das Frühstück morgens, die Fahrt im Zug mit dem Anruf von Christine aus Münster in Höhe der Haltestelle Münster-Zentrum Nord, die Goldkette mit dem Kreuz von meiner Mutter als Glücksbringer, das eigenartige Essen im Flughafen, die vielen Tränen beim Abschied, das halbleere Flugzeug, die Ankunft in Moskau bei Regen, das lange Warten ohne Ende, der Engel Juri, die ersten Eindrücke von Moskau, die Ankunft im Wohnheim und dann die erste Nacht dort.

Heute habe ich um 16:30 Uhr MEZ / 18:30 MZ eine Pause vom Lernen eingelegt und noch einmal des Tages gedacht, mit dem alles seinen Anfang genommen hat. Ich habe gedankt - von ganzem Herzen. Für die vielen guten Erfahrungen, die wenigen schlechten Erfahrungen. Für alles.

Die Erinnerung ist noch ganz präsent - die Erinnerung scheint kein Windhauch zu sein. Mit der Erinnerung an diese schöne Zeit nimmt Russland kein Ende für mich. Russland wird mich bestimmt mein Leben begleiten. Ich will mich jeden Tag an die erinnern, die mir diese schöne und so glückliche Zeit bereitet haben. Die Erinnerung - mein Schatz. Danke Freunde! Danke PSTGU! Danke DAAD! Danke-Danke-Danke.

Danke auch an alle, die mich an dieser Stelle durch mein Russland begleitet haben, die mitgefiebert und die sich mitgefreut haben, die für mich gebetet haben. Ich weiß bis heute nicht, wie viele es waren. Ich war immer nur überrascht, von wem ich gehört habe, dass er/sie dort liest. Auch wenn ich hier nun wohl ein Ende finde - Russland hat für mich kein Ende. Herzlich sind Sie / seid Ihr eingeladen, noch einmal auf diese Seite zu schauen und mit mir in diese schöne Zeit einzutauchen. Daher sage ich nicht tschüß - ich sage: Hier bin ich! Und vielleicht geht es hier ja einmal weiter? Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich nehme, was mir gegeben wird. Und all das will ich dankbar annehmen - auch wenn es mir schwer fällt.

 

Благослови, душе моя, Господа,

Благословен еси Господи.

Благослови, душе моя, Господа,

н не забывай всех воздаяаний Его.

Очищающаго вся беззакония твоя,

исцеляющаго вся недуги твоя.

Избавляющаго от истления живот твой,

венчающаго тя милостию и щедротами.

Исполняющаго во благих желание твое,

обновится, яко орля, юность твоя.

Щедр и милос тив Господь,

долготерпелив и многомилостив.

Благослови, душе моя, Господа,

и вся внутренняя моя, имя святое Его.

Благословен еси, Господи.

Psalm 102 (103)

 

Preise den Herrn, meine Seele,

und was in mir ist seinen heiligen Namen.

Lobe den Herrn, meine Seele,

und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan.

Er vergibt dir all deine Sünden

und heilt alle deine Gebrechen,

Er erlöst dein Leben vom Verderben

und krönt dich mit Gnade und Barmherzigkeit,

Der dich dein Leben lang mit seinen Gaben sättigt;

wie dem Adler wird dir die Jugend erneuert.

Barmherzig und gnädig ist der Herr,

geduldig und von großer Güte.

Preise den Herrn, meine Seele,

und was in mir ist seinen heiligen Namen.

Herr sei gepriesen!

(Psalm 103)

 

 

 

 

 

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